An einem dieser Totensonntage


Der Tisch ist gedeckt, die Speisen sind aufgetragen. Es ist angerichtet. Reservieren muss keiner, wir sind immer hier. Wir sind die Zurückgebliebenen, die Übriggebliebenen. Wir tragen Masken zu jedem Fest. Zum Totensonntag, zum Volkstrauertag, und vor allem zum Heiligen Abendmahl.
Magst du einen Rotwein, frage ich ihn. Er schaut an mir vorbei. Still in sich gekehrt sitzt er mir gegenüber am großen Esszimmertisch. Unsere Worte sind uns schon lange entschwunden. Irgendwo zwischen Totensonntag und Aschermittwoch, vor unmenschlich langer Zeit. Melchior spricht nicht mit mir. Er belässt es beim Schweigen. Was jetzt, frage ich trotzdem in die Stille hinein. Eine Antwort erhalte ich nicht. Sein Schweigen hängt bleischwer gegossen an der Wand. Auf dem Esstisch zwischen uns haust die Vergangenheit. Ein grünschimmernder Schweinskopf. Das Verfallsdatum ist längst überschritten. Schmeißfliegen steigen auf und fliegen taumelnd davon. In der Kuckucksuhr über dem Kamin hockt ein Bestatter und beerdigt die Zeit. Dann erhängt er sich am Stundenzeiger. Der räudige Kuckuck, an Krätze krepiert, hat kein Testament hinterlassen. Um die polierten Messerbänkchen auf dem Tisch rankt verwelkter Lorbeer. Der blutrote Rioja den ich Melchior trotzdem ins Glas gieße, wird mit der Zeit vertrocknen. So wie auch unser Sprechen vertrocknet ist. Gelbbraunes Herbstlaub fällt schwer von der Decke, und beginnt uns langsam zu ersticken. Bald wird Winter sein. Dann wird der Schnee unser Schweigen mit seinem weißen Leichentuch überdecken.
Die Leere hockt im Raum und ist greifbar. So geht das schon seit Jahren. Ich schaue ihn an. So gerade und steif wie er da auf seinem Edwardian Stuhl thront, hat er fast etwas Aristokratisches. Aus seinem blassen Gesicht kann man keine Gefühle ablesen. Er wirkt gleichgültig und unnahbar. Heute trägt er einen hellgrauen Anzug aus feinem Kaschmir mit einer roten Krawatte. Sein Stil, seine Manieren, und seine noble Art beschämen mich, und auch sein Schweigen. Vielleicht weil ich bemerke, dass auch ich mittlerweile dem Schweigen verfallen bin. Ich schaue ihm in die Augen und sehe, dass er durch mich hindurchschaut. Solche Dinge passieren. Sie geschehen auch, weil sie geschehen müssen. Während ich darüber nachdenke klingelt das Telefon. Ich stehe auf und nehme den Anruf entgegen. Es ist Totensonntag. In der Ferne klingelt ein Totenglöckchen.
Tut mir leid, sage ich, und verlasse erleichtert unsere feste Burg, die unser aller Tod ist. Mit Wehr und Waffen rase ich mit dem Wagen durch nachtfeuchte Platanenalleen, am Grüneburgpark vorbei, immer weiter, immer weiter. In die Vororte, tief im Westen. Dort wo die Sonne verstaubt! Da ist es besser, viel besser, als man glaubt!, singt einer im Radio. Alles Lüge, denke ich, alles Lüge. Ich fahre durch immer enger werdende Straßen. Dann bleibe ich im Elend am Ende der Welt stecken. Ich schiebe die Gaffer beiseite, deren Gesichter im Schein der der kreisenden Blaulichter zyanotisch flackern. Vor mir ein Haus, dass die Zeit totgeschlagen hat. Moritatus. Im Niemandsland. Am Gottesacker.
Hastig steige ich die Treppen zum Dachgeschoss hinauf. Keuchend verharre ich auf der letzten Treppenstufe. Im Hausflur riecht es nach Schweiß, Erbrochenem, und Fäulnis. Dazwischen lauern Bohnerwachs und Anständigkeit, die mir Übelkeit verursachen. Aber wenn man sein Mahl genießen will, muss man es überwinden.
Der Tisch ist gedeckt, die Speisen sind aufgetragen. Es ist angerichtet. Jemand hat für mich reserviert. Ein diensteifriger Ober im grünen Livree weist den Weg. Zögerlich betrete ich den gastlichen Raum. Der blutige Läufer im Flur zeigt mir die Speisefolge. Hinten am Ende des engen Korridors ein kleines Bad. Immer wenn ich Gaststätten betrete, schaue ich zuerst in die Toiletten. An der halboffenen Tür an einem Nagel ein vergammeltes Lebkuchenherz. ICH·LIEBE·ICH, schreit das verkümmerte Herz..Das D ist verschwunden. Von hungrigen Motten gefressen, die schon lange in ihm hausten.
Hinter der Badtür Raum für die befleckte Empfängnis. Blutsonntag. Ein besudeltes Waschbecken, darüber einen alten Spiegel, erblindet. Die verdreckte Toilettenschüssel mit einer Umrandung aus altem Frottee, ein Kotau. An einem rostigen Handtuchhalter ein nikotingelbes Handtuch, blutverschmiert. In der halbgefüllten Wanne hinter der Tür ein junges Mädchen im Schwarz ihres Lebens. Unförmig und aufgebläht. Trauerränder unter den abgebrochenen Fingernägeln. Der Geruch der Verwesung, unerträglich. Die Haut ein Netzmuster aus Adern, wie ein alter Schnittmusterbogen. Vor der Badewanne ein blutgetränkter Teppich mit matschigen Klumpen darauf. Kalbsbries denke ich. Aber ich habe noch nie welches gegessen. Ein Hammer mit abgebrochenem Stiel. Mit Kalbsbries daran. Vom Schmied hinterlassen. Der auch der Metzger war. Mein Magen revoltiert. Draußen vor der Tür erbreche ich mich in eine Alditüte, die ich immer dabei habe. Der zweite Gang wird serviert. Ich stelle mich vor die Badewanne und schaue auf das junge Mädchen. Mit einem Diktiergerät in der Hand, der erste Tatortbefund. Massive Gewalteinwirkung gegen die Schädelbasis und die Stirn. Die großen Löcher im offenen Schädel , passend zur Größe des Hammers. Der Hammer der Zorn, der abgebrochene Stiel der Hass. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Ich schaue ihr in den offenen Kopf und kann keine Antworten finden. Was man in geschlossenen Köpfen nicht findet, das findet man auch nicht in offenen. Ein Foto in meinen Händen. Zwei Mädchen, die sich mal kannten. Die eine im Rosarot ihres Lebens, die andere im Schwarz unter mir. Totensonntag.
Die Spurensicherung trifft ein. Es ist Zeit zu gehen. Zurück in die feste Burg, die Gott bereits verlassen hat. Die notwendige rituelle Reinigung, bevor mich die Nacht weiter auffressen wird. Als ich das Bad verlasse nehme ich alles mit. Weil ich ein Sammler bin. Ein Totem Sammler. Man muss mitnehmen was da ist, sonst bekommen es die anderen. Dies alles ist kein Wunschkonzert. Heute hat es sich gelohnt. Ich nehme mit: Die Erinnerungen an ein Mädchen im Schwarz ihres Lebens. Gleichfalls all das Blut, den abgebrochenen Hammer, den eingeschlagenen Schädel, die zentimetergroßen Knochensplitter, die ausgetretene Gehirnmasse die wie Kalbsbries aussah, den Schnittmusterbogen, die Schmeißfliegen, ein mottenzerfressenes Herz auf dem ICH·LIEBE·ICH stand. Das Bild von einem Mädchen, das dem Mädchen in der Wanne nicht ähnlich sah. Dazu packe ich noch den Geruch von Fäulnis, Blut, Schweiß, Urin, Erbrochenem, und auch den Gestank von Bohnerwachs in die Hosentasche. All dies jetzt meine Gerüche, die mich nicht mehr verlassen. Weil ich sie nie verlassen habe. Weil sie zu mir gehören. Zuhause sitzt Melchior immer noch still und regungslos am Esstisch und schweigt. Meinen Gruß ignoriert er wie immer. Er scheint tief in sich versunken. Er wohnt in einer anderen Welt, weil ihm seine scheinbar sinnlos erscheint. Sicher meint er damit vor allem auch die Welt, aus der ich gerade komme. Ich bin müde und setze mich ihm gegenüber auf den Stuhl. Dann trinke ich die stehengebliebene halbvolle Flasche Wein in einem Zug aus. Plötzlich begegnen sich unsere Blicke. Erst bin ich mir sehr unsicher, aber dann begreife ich es. Er schaut mich fragend an. Scheinbar sieht er meine Erschöpfung, sieht dieses große Bündel Mensch vor sich, sieht auch die Last auf meinen Schultern, die mich niederdrückt. Dann bricht er plötzlich sein jahrelanges Schweigen. Er beginnt zu sprechen.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen, sagt er zornig zu mir. Du musst Entscheidungen treffen, wenn du noch überhaupt etwas ändern willst. Sonst ist es zu spät. Ich schaue ihn überrascht an. Unser gemeinsamer Weg ist zu Ende, sagt er dann auch noch, du brauchst mich jetzt nicht mehr. Du musst jetzt allein Gehen lernen. Das wollte ich dir schon vor langer Zeit sagen. Es ist Zeit Abschied zu nehmen.
Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen. Dann gehe ich um den Tisch herum und nehme Melchior in meine Arme. Ich umarme ihn, und beginne zu weinen. Dann hebe ich ihn vorsichtig vom Stuhl hoch, und trage ihn zum Balkon hinterm Schlafzimmer. Er leistet keinen Widerstand, als ich ihn über die Brüstung gleiten lasse. Lautlos fällt er nach unten ins Dunkel hinab. Dann höre ich den dumpfen Aufprall im Hinterhof. Als ich wieder hineingehe erschreckt mich ein Schatten. Vor mir steht mein neues Leben. Aus schweren Albträumen erwachend, gehe ich am nächsten Morgen hinunter. Melchior liegt zerschmettert auf den Pflastersteinen. Seine Augen glotzen starr. Ich schleppe ihn zur Mülltonne mit den Sonderabfällen. Ich brauche keine Schaufensterpuppe mehr.

©Friedrich Hucke